C. Conrad u.a. (Hrsg.): Wohnen und die Ökonomie des Raums

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Titel
Wohnen und die Ökonomie des Raums.


Herausgeber
Conrad, Christoph; Eibach, Joachim; Studer, Brigitte; Teuscher, Simon
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Buzek Boris

Wohnen sei in den Geschichtswissenschaften, anders als in anderen Disziplinen, bisher kein wichtiges Thema. Zu Unrecht, konstatieren die Herausgeber/-innen des Sammelbandes Wohnen und die Ökonomie des Raums in der Einleitung, weshalb die Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (SGWSG) 2011 unter das Rahmenthema Wohnen und die Ökonomie des Raums gestellt wurde. Sie erkennen für den Themenbereich grosses Innovationspotential und weisen auf die Vielfalt interdisziplinärer Bezüge und methodischer Perspektiven hin. Der 2014 erschienene Tagungsband sammelt eine Auswahl der Beiträge. Einige zeigen die Potentiale deutlich und anregend auf, doch ebenso divergent wie der angesprochene disziplinäre Kontext präsentieren sich auch die Beiträge.

Die Einleitung wird von einem gut informierten Überblick von Adelheid von Saldern begleitet, die den thematischen Raum des Bandes zwischen disziplinären Spannungsfeldern und methodischen Möglichkeiten aufrollt. Angesichts der potentiell problematischen Dispersion des Forschungsbereiches empfiehlt sie eine forschungsstrategische Kombination aus direkter Analyse und der Integration bestimmter Aspekte in andere historische Untersuchungsgegenstände. Gerade in den Anknüpfungspunkten zu anderen Untersuchungsbereichen liege indes, mit Blick auf Kommunikations- und Interaktionsräume, die sich in eine raumbezogene Gesellschafts- und Geschlechtergeschichte integrieren liessen, eine grosse Chance zur Entwicklung attraktiver Forschungsdesigns. Über die weitere Struktur des Bandes muss nicht viel reflektiert werden. Die chronologische Ordnung der Beiträge ist nicht zwingend, steht aber angesichts der Inhalte keiner alternativen, schlüssigeren Anordnung im Wege. Die Auswahl der Beiträge kommt zum einen dem formulierten Anliegen der SGWSG – der Förderung junger Historikerinnen und Historiker – entgegen, zum anderen widerspiegelt sie die Diversität der disziplinären Anknüpfungsmöglichkeiten wie auch die themenimmanente Vielfalt in Bezug auf zeitliche, geographische und gesellschaftliche Kontexte.

Insgesamt wird für die Kernthematik Wohnen eine schwierige Quellenlage konstatiert. Gerade dies führt die Autoren/-innen aber auch zu interessanten Verbindungen. So rekurrieren in diesem Zusammenhang beispielsweise Brigitte Moser und Thomas Glauser in ihrem Beitrag auf den interdisziplinären Austausch mit der Bauforschung. Sie vermögen in diesem Feld einzelne deutungsrelevante Quellenansätze und Beispiele herauszustellen und demonstrieren damit das Potential der bauhistorischen Quellenlage zur Ermittlung von Arbeits- und Wohnverhältnissen im Mittelalter. Katharina Baumann hingegen sucht den Zugang über ein technisches Gedächtnis. Sie zeigt auf, wie über handwerkliches Wissen und eine spezifische Ressourcensituation sowie unter Berücksichtigung der soziopolitischen Situation die Praxis des Verschiebens integraler Wohnbauten ergründet werden kann. Statt die Mobilität der Räume und ihre Benutzung behandeln die Beiträge von Reto Schumacher und Luigi Lorenzetti sowie derjenige von Adrien Remund die Mobilität der Bewohner. Ausgehend von statistischem Material werden spezifische intraurbane Mobilitätsverhalten in Lausanne und Genf ermittelt. Dabei ist der Beitrag von Schumacher und Lorenzetti einer der wenigen, die die unterschiedlichen räumlichen Dimensionen des urbanen Wohnkontexts aufgreifen. Remund zeigt hingegen, dass die Mobilität nicht wie angenommen mit dem Fortschritt steigend, sondern im Gegenteil gerade im 19. Jahrhundert als sehr hoch einzuschätzen ist.

Alternativ zu diesen gegenständlichen und statistischen Zugängen zielen andere Beiträge auf soziokulturelle Fragekomplexe und Methoden. Auf interessante Weise begegnet Nanina Egli der prekären Quellenlage in Bezug auf die subjektive Aneignung von Wohnräumen: Zur Fassung allgemeiner Wohnpraktiken des Bürgertums im Zeitalter des Historismus wählt sie, ex negativo, einen Weg über die mikrogeschichtliche Analyse einer ungewöhnlichen Wohnform am Beispiel der Kyburg. Über das in erster Linie aus Briefen bestehende Quellenmaterial werden für Egli Wohnfragen als diskursiv verhandelte Praxis fassbar, die sie an wissenstheoretische Reflexionen anknüpft. Auch der Bezug auf Max Weber, der in der Einleitung schon vorweg genommen wird, wird mehrfach hergestellt. So legt beispielsweise Elizabeth Harding in ihrer Analyse der spezifischen soziokulturellen Situation frühneuzeitlicher Professorenhaushalte den Fokus auf die Funktion der Räume und die damit zusammenhängende soziale Schätzung. Wiederholt grenzen sich die Beitragenden allerdings gegen Otto Brunners Konzept des Ganzen Hauses ab. So zum Beispiel Julia A. Schmidt-Funke, welche die Wechselwirkung materieller Gegenstände und physischer Räumlichkeiten des Wohnens untersucht. Schliesslich werden auch politische Dimensionen miteinbezogen; so beispielsweise in Ruth Ammans geschlechterspezifischen Betrachtung der Wohnreformen des beginnenden 20. Jahrhunderts oder in Sebastian Haumanns Vergleich von wohnraumbezogenen Bürgerinitiativen im Osten der USA und in der BRD.

Am Beispiel Berner Zunfthäuser verfolgt Daniel Schläppi die räumlich operationalisierte Allokation und Distribution kollektiver Ressourcen. Ein Einbezug der vielfältigen Bedeutungsdimensionen institutioneller Bauten im städtischen Umfeld, eine Betrachtung der räumlichen Anordnungen und Funktionen sowie ihre Einbettung in den urbanen Kontext wären hier allerdings auch in einem raumtheoretischen Zusammenhang interessant gewesen. Die Untersuchung von Joël Jornod fragt nach den Auswirkungen der Präsenz von Wohnungen in kleinstädtischen Geschäftshäusern auf ein allfälliges Identitätsmodell der betreffenden Ladenkette. Dabei treten eher die lokalen Verhältnisse als der Zusammenhang zur Wohnnutzung als einflussreiche Faktoren hervor. Die Untersuchung hätte von einer Auseinandersetzung mit der Kategorie Stil profitieren können, insofern diese bemüht wird, um den Bezug zwischen Ausdrücken der Identität der Geschäfte und des Wohnens herzustellen. Hanno Hochmuth hinterfragt die Verschränkung von öffentlichem und privatem Raum als soziopolitische Situation am Beispiel der Bebauung der Sorauer Strasse in Berlin. Mit Bezug auf Hans Paul Bahrdt und Georg Simmel betrachtet er die unvollständige soziale Integration in der Grossstadt als negative Voraussetzung für die Entstehung von Privatheit und Öffentlichkeit. Allerdings vermag der Beitrag den gross angelegten Entwicklungsbogen vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nicht durchgehend quellenbasiert und argumentativ stringent zu halten und entwickelt sich abschnittsweise zum interpretativen Überblick. Im Beitrag von Sandro Fehr zum Zusammenhang von Luftfahrtinfrastrukturen und wohnräumlichen Strukturen der 1930er bis 1950er Jahre würde ein klar umrissener Gegenstand helfen, seine Relevanz zu unterstreichen. Zudem bedürfte das gezogene Fazit prägnanterer Korrelationen in den Falluntersuchungen.

Alles in allem skizzieren die Untersuchungen interessante Zusammenhänge, zeigen vielversprechende Perspektiven und Zugänge zu diesem als interdisziplinär fruchtbar erkannten Forschungsfeld, geben Einblicke in die verfolgten Forschungen und leisten ansprechende thematisch-theoretische Einbettungen, die verständlicherweise im Rahmen der Beiträge nicht erschöpft werden können, aber mögliche Anknüpfungspunkte erkennen lassen. Einige Beiträge lassen eine, im Anschluss an die Tagungsthematik und die formulierten Forschungsperspektiven, konzise und relevante Fragestellung vermissen oder zeigen Schwächen im argumentativen Aufbau. Doch die erfreuliche Breite der Beiträge und der aufgezeigten Vorgehensweisen deutet darauf hin, dass die von den Herausgeber/-innen mit Blick auf zukünftige Forschung formulierte Frage, ob sich das Potential der Auseinandersetzung mit dem Thema besser als kleine Subdisziplin oder theorieorientiert an den geschichtswissenschaftlichen Kanon angebunden entfalten würde, vorerst noch nicht beantwortet werden kann.

Zitierweise:
Boris Buzek: Rezension zu: Christoph Conrad, Joachim Eibach, Brigitte Studer, Simon Teuscher (Hg.), Wohnen und die Ökonomie des Raums, Zürich: Chronos Verlag, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 486-489.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 486-489.

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